Schmerzloser Genderaustritt
Im Januar habe ich mich entschieden, was gegen den Genderwahn zu tun. Man muss die Wut der Sternchengegener*innen ernst nehmen, dachte ich. Die Lage benötige konkrete Lösungen. Ich würde aus meinem Gender austreten. Kein Gender, keine Probleme.
Dank dem Selbstbestimmungsgesetz war es die einfachste bürokratische Erfahrung ever. Einfach das Formular drucken, „Streichung der Geschlechtseingabe“ ankreuzen, abschicken. Dann passiert etwas merkwürdiges: die Berliner Behörde haben mich angerufen, um einen Termin vorzuschlagen. Keine Online-Klickerei um einen Termin in 32 Minuten am anderen Ende der Stadt zu bekommen, nein, sie rufen an. Nur dafür lohnt es sich.
Ein paar Monaten später war ich an der Urkundenstelle des Standesamtes. Umgeben von Regalen voll mit Mappen aus dem vorigen Jahrhundert reichte mir eine sehr nette Angestellte ein Blatt Papier ein. Unterschreiben, 15 Euro zahlen, fertig.
Et voilà. Total ereignislos. Mein Bart ist nicht runtergefallen. Sogar meine Pronomen sind gleich geblieben. Meine Geschlechtsorgane sind noch da. Nach wie vor sind sie eine Angelegenheit für meinen Arzt, nicht für meinen Staat. Gender ist nicht Geschlecht und ich bin Beweis dafür, dass man das Eine wegschneiden kann, ohne das Andere zu verlieren.
Genderaustritt ist genauso wie Kirchenaustritt, nur günstiger. Ich glaubte nicht an Gender davor, glaube nicht daran danach, nichts weiteres passiert.
Warum dann austreten, wenn es nichts ausmacht? Der erste Grund ist pragmatisch-solidarisch. Die neue Regierung plant, das Selbstbestimmungsgesetz abzuschaffen. Viele Leute, besonders Trans*personen, brauchen es wirklich. Je mehr Menschen nutzen das SBGG, desto schwieriger wird es für Reaktionär*innen, es abzuschaffen. Klar muss man dafür einiges einbüßen, wie zum Beispiel Reisepläne in die USA, wo man eins von zwei Gendern braucht, um einzureisen. Aber für Autoritarismus-Tourismus gibt es ja Ungarn, ist sowieso näher.
Es gibt auch einen moralischen Grund für den Genderaustritt. Gender ist die Ur-Spaltung der Gesellschaft. Nur durch diesen Binarismus konnten die ersten zivilisierten Männer ihre Macht ausüben. Nicht-Männer wurden nach Innen verdrängt und die Mahnung, männlich zu sein, verunsicherte alle Möchtegern-Männer, so dass am Ende niemand sich gut in seinem Körper fühlte, und das seit 4.000 Jahren.
Ohne Gender muss ich meine Männlichkeit nicht mehr unter Beweis stellen. Weniger Gender, mehr Freiheit. Natürlich gilt das nur für mich selbst. Ich werde immer noch als Mann betrachtet und behalte alle dazugehörige Privilegien. Wäre ich eine Frau, könnte ich nicht per standesamtlichen Erlass von Sexismus befreit werden.
Trotzdem ist es kein Grund, nicht auszutreten. 1950 war die BRD noch zu 96% christlich. Seitdem sind Millionen aus der Kirche ausgetreten. Religion nimmt noch viel zu viel Platz in der Öffentlichkeit ein, aber es kann keinen Zweifel daran geben, dass der massive Kirchenaustritt ihren Einfluss unterminiert hat. Wenn Millionen aus dem Gender austreten, könnte vielleicht der Genderwahn in ein Paar Generationen ausgelöscht sein. Menschen aller Geschlechter, oder ohne, könnten dann glücklich miteinander leben.
Cover Abbildung: Zittende figuur, von Karel de Nerée tot Babberich, c. 1905 - 1907.